Haydns „Abschiedssinfonie“: Eine Nachricht an Fürst Esterházy?
Es ist eine der hartnäckigsten Anekdoten, die man sich rund um Joseph Haydn erzählt: Fürst Nikolaus Esterházy residiert mit seinem Hofstaat im Schloss Eszterháza und die Musiker haben Heimweh nach Eisenstadt. Sie wenden sich hilfesuchend an Haydn. Dieser hat die zündende Idee: Er lässt am Ende seiner neuen Sinfonie die Orchestermitglieder nach und nach aufstehen und die Bühne verlassen. Der Fürst versteht die Geste und erlaubt den Musikern, wieder nach Hause reisen. Heute wird der Abgang des Orchesters auch als eine der vielen „musikalischen Scherze“ Haydns angesehen. Doch was ist an der Anekdote dran und ist das Sinfoniefinale wirklich lustig gemeint? Wir lauschen uns in den rätselhaften Schluss der sogenannten „Abschiedssinfonie“ hinein, hören dabei auch melancholische Töne und finden heraus, dass Haydn sich für das Finale vielleicht von einem Theaterstück inspirieren ließ.
Die Abschiedssinfonie
„Sinfonia in Fis minore“. So schlicht betitelt Joseph Haydn jenes Orchesterwerk, das noch zu seinen Lebzeiten unter dem klingenden Namen „Abschiedssinfonie“ bekannt wird. Das Hoboken-Verzeichnis listet sie als Sinfonie Nr. 45 (Hob. I:45) in fis-moll. Bis heute erklingt sie in Konzertsälen und sorgt dort regelmäßig mit ihrem letzten Satz für Schmunzeln. Schließlich sieht man nicht alle Tage, dass ein Orchestermitglied nach dem anderen mitten im Stück aufsteht und einfach so die Bühne verlässt – manche winken sogar noch zum Abschied oder schleichen sich auf Zehenspitzen davon. Selbst der Dirigent legt dann seinen Stab nieder und geht. Einige Musikwissenschaftler:innen sehen diese betont lustigen Aufführungen jedoch kritisch – dazu aber später mehr.
Auch dem Fürsten Nikolaus I. Esterházy wird die Sinfonie im Jahr 1772 mit dem charakteristischen Abgang seiner Musiker präsentiert. Über den Grund dieser ungewöhnlichen Darbietung ranken sich mehrere Geschichten.
Stimmt das? Die Anekdoten rund um Haydns „Abschiedssinfonie“
Lesen wir einmal bei Albert Christoph Dies – einem Biographen Haydns – nach, was er 1810 über die Entstehung der Sinfonie Nr. 45 in fis-moll schreibt:
„Der Fürst Nicolaus Esterhazy wohnte den Sommer über zu Esterhaz in einem neuen Schlosse, welches dieser Fürst damahls erbauen ließ, und das in der Folge dessen Lieblingsaufenthalt wurde. Der Hofstaat mußte ihm dahin folgen. Das nur erst zum Theil erbauete und eingerichtete Schloß war jedoch für eine so große Anzahl von Menschen nicht geräumig genug; darum wurde eine Auswahl getroffen, und Virtuosen, die den Fürsten nach Esterhaz begleiten mußten, sahen sich genöthigt, sechs Monathe hindurch, der Gesellschaft ihrer Weiber zu entbehren. Alle waren junge lebhafte Männer, die mit Sehnsucht dem letzten Monathe, dem Tage, der Stunde der Abreise entgegen sahen, und das Schloß mit verliebten Seufzern erfülleten.“ Die Verzweiflung unter den verliebten Ehemännern war laut Dies dementsprechend groß, als der Fürst seinen Aufenthalt um zwei Monate verlängern wollte: „[…] sie bestürmten den Kapellmeister Haydn, bathen, fleheten: er müsse, er solle Rath schaffen.“ Haydn wusste Rat „[…] und entwarf ein Sextett neuer Art.“ Dieses „Sextett“, eben die Sinfonie in fis-moll, wurde dem Fürsten Esterházy samt dem szenischen Abgang seiner Hofmusiker vorgespielt. Dies schreibt über den Ausgang dieser Aufführung: „Die Virtuosen hatten sich indessen im Vorzimmer versammelt, wo sie der Fürst fand, und lächelnd sagte: ‚Haydn, ich habe es verstanden, morgen können die Herrn alle reisen‘ […].“.
Diese Version der angeblichen Entstehungsgeschichte rund um die „Abschiedssinfonie“ ist bis heute die bekannteste – aber schon Albert Christoph Dies merkt an: „Die Leser werden diesen Vorfall in der Musikal. Zeitung Oct. Jahrg. 1799 Seite 14 auf eine ganz andere Art erzählt finden: ein Beispiel, welche Verwandlungen Vorfälle durch das Wiedererzählen von Mund zu Mund erleiden müssen.“
Wie hat sich also die Geschichte laut diesem Zeitungsbericht abgespielt? Fürst Nikolaus I. Esterházy hätte in dieser Variante aus wirtschaftlichen Gründen die Musikkapelle entlassen müssen. Für das letzte Konzert hätte Haydn daher die Sinfonie Nr. 45 komponiert und mit dem besonderen Finale den Fürsten doch noch umgestimmt, die Kapelle weiterhin bestehen zu lassen. Gegen diese Geschichte spricht sich nicht nur Dies aus, sondern auch ein weiterer Biograph und Zeitgenosse Haydns, nämlich Georg August Griesinger: „[…] die Variante, daß Haydn dadurch seinen Fürsten von dem Vorsatze, seine ganze Kapelle zu entlassen, abgewendet, und so vielen Menschen ihren Erwerb wieder gesichert habe, ist zwar poetisch schöner, aber nicht historisch richtig.“ Auch Griesinger hält nämlich die romantische Version mit den heimwehgeplagten Ehemännern für die richtige. Und immerhin, so behauptet er jedenfalls, habe ihm Haydn selbst die Geschichte so erzählt.
Haydns italienischer Biograph Giuseppe Carpani hat 1812 noch eine dritte Variante zu bieten, wonach sich der Komponist mittels der „Abschiedssinfonie“ einen Spaß mit den aufmüpfigen Musikern erlauben wollte. Sogar eine vierte Version gibt es, die uns durch den Franzosen Nicolas-Etienne Framéry überliefert ist. Er erzählt, dass Haydn sich bei einem Konzert über den unaufmerksamen Fürsten Esterházy so geärgert hätte, dass er im Anschluss seine Kündigung eingereicht habe – erst die „Abschiedssinfonie“ habe dem Fürsten die Qualitäten seiner Musiker gezeigt.
Wir stehen also vor einem Problem: Welche Version stimmt? Griesinger schreibt zwar zum Beispiel, dass die „Einsame-Ehemänner-Variante“ die richtige sei, denn: „[…] so erzählte mir Haydn die Veranlassung zur Abschieds-Symphonie“. Eine gesicherte Quelle ist diese Behauptung jedoch nicht, zumal Sigismund Neukomm – ein Schüler Haydns – sich wiederum gegen die „Einsame-Ehemänner-Version“ ausspricht. Amüsanterweise gibt auch er an, dass ihm Haydn die richtige Variante erzählt hätte, nämlich die mit der drohenden Auflösung der Kapelle. Manche MusikwissenschaftlerInnen sind sogar der Meinung, dass gar keine der Geschichten stimmt. Sie vermuten, dass man sich mit den Anekdoten vor allem im 19. Jahrhundert den ungewöhnlichen Schluss der Sinfonie zu erklären versuchte. Immerhin würde man von einem „Klassiker“ wie Haydn auch ein „klassisches“ Finale mit Schlussakkord erwarten und kein langsames Auflösen der Musik. Die Geschichten bieten für diese seltsamen letzten Satz einen nachvollziehbaren Grund.
Vielleicht sind die Anekdoten aber auch eine poetische Reaktion auf Fragen, die sich wohl schon viele Haydn-Interessierte gestellt haben: Wie viel durfte sich Joseph Haydn unter Fürst Esterházy erlauben? War er untertäniger Diener seines Herren oder konnte er Kritik äußern, vielleicht sogar ein bisschen rebellieren? Die Antwort ist zumindest in den Anekdoten klar: Mithilfe seines Talents und Einfallsreichtums konnte Haydn so manche Standesdünkel umgehen.
Ein musikalischer Scherz?
Sehen wir uns auf bekannten Videoplattformen Mittschnitte des finalen Satzes der „Abschiedssinfonie“ an, so fällt auf, dass der Abgang des Orchesters heute oft als witziger „Gag“ inszeniert wird. Da winkt ein Kontrabassist noch einmal zum Abschied und die Cellistin schleicht sich auf Zehenspitzen von der Bühne, während der Dirigent scheinbar machtlos mit gespielt überraschtem Gesichtsausdruck reagiert – die Sinfonie wird zur willkommenen Abwechslung für das Publikum im manchmal sehr ernsten klassischen Konzertrepertoire. Es darf, es soll gelacht werden!
Diese Art der Aufführungen entspricht dem Bild, das wohl viele von Haydn haben: Ein Komponist, der immer für den ein oder anderen Scherz zu haben ist – auch in der Musik. Geprägt hat diese Vorstellung auch Haydns Biograph Griesinger, schreibt er doch schon 1810: „[…] wer auch nur eine Stunde mit ihm [Haydn, Anm.] zugebracht hatte, mußte es bemerken, daß der Geist der österreichischen National-Heiterkeit in ihm athme. In seinen Kompositionen zeigt sich diese Laune ganz auffallend […].“. Griesinger gibt uns Leser:innen auch gleich ein Beispiel dazu: „Eben so ist die früher erwähnte Abschieds-Symphonie ein durchgeführter musikalischer Scherz.“. Aber ist diese wirklich als amüsierendes Werk mit lustiger Schlusspointe gedacht? Einige MusikwissenschaftlerInnen sind da anderer Meinung.
Sie zweifeln bereits anhand der Tonart der Sinfonie – fis-moll – daran, dass Haydn mit der Komposition Heiterkeit hervorrufen will. Diese Tonart wird bis ins 19. Jahrhundert nur selten für Orchesterwerke genutzt, da sie aufgrund der damaligen Bauweise von Hörnern oder Trompeten kaum auf diesen Instrumenten spielbar ist. Haydn lässt daher extra für seine „Abschiedssinfonie“ die Instrumente der fürstlichen Kapelle umbauen. Noch wichtiger aber ist: Zur Zeit Haydns schreibt man der Tonart fis-moll eine schwermütige, melancholische Wirkung zu. Und überdies verwendet Haydn an einer Stelle seiner Sinfonie, genauer im Menuett, die Melodie des gregorianischen Klageliedes „Incipit lamentatio“. Das sind bereits einige Gründe, um zu vermuten, dass Haydn bei seiner „Abschiedssinfonie“ nicht zu Scherzen aufgelegt war.
Auch andere Zeitgenossen Haydns beschreiben das Werk als melancholisch. So liest man etwa in der französischen Zeitung „Mercure de Paris“ aus dem Jahr 1784, dass das Finale der Sinfonie ein „[…] Andante d’un chant triste & lugubre […]“, also ein Andante von traurigem und düsterem Gesang, sei. 1799 führt ein Orchester das Stück seinem letzten Konzert auf und die „Allgemeine Musikalische Zeitung“ schreibt dazu: „Als sich beim Schlusse erst etliche Blasinstrumente entfernten, ließ man sich's gefallen, manche (sic!) Zuhörer kam es sogar komisch vor. Als aber auch die nothwendigen Instrumentisten aufhörten, die Lichter auslöschten, leise und langsam sich entfernten - da wurde allen eng und bang ums Herz. Und als endlich auch der Violon schwieg und nur die Geigen - jetzt nur noch Eine Geige schwach erklang und nun starb: da gingen die Zuhörer so still und gerührt hinweg als wäre ihnen aller Harmoniegenuß für immer abgestorben.“
Im 19. Jahrhundert äußern sich auch die Komponisten Robert Schuhmann und Felix Mendelssohn Bartholdy über das Finale der „Abschiedssinfonie“. Schuhmann berichtet: „Die Musiker (auch unsere) löschten dabei, wie bekannt die Lichter aus und gingen sachte davon; auch lachte Niemand dabei, da es gar nicht zum Lachen war.“. Sein Musikerkollege Mendelssohn Bartholdy urteilt: „Es ist ein curios melancholisches Stückchen.“.
Die heutige Idee eines witzigen, also komischen Haydns ist vielleicht auch der veränderten Bedeutung des Wortes Witz geschuldet. Im 18. Jahrhundert meint „Witz“ einen wachen Geist oder Intellekt. Wenn also in zeitgenössischen Quellen vom „Witz“ in Haydns Musik gesprochen wird, muss das nicht unbedingt lustig gemeint sein, sondern eher im Sinne von „Einfallsreichtum“. Haydns Finale der Sinfonie Nr. 45 und der Abgang des Orchesters ist daher eher ein „gewitzter“ Überraschungseffekt.
Eine theatralische Sinfonie?
Ohne ihr charakteristisches Finale mit dem „Abschied des Orchesters“ wäre Haydns Sinfonie in fis-moll vermutlich nicht ganz so bekannt wie sie heute ist. Die zeitgenössischen „Regieanweisungen“ unterscheiden sich zwar ein wenig – in Haydns Autograph selbst steht nur „nichts mehr“, während in Abschriften „geht ab“ und sogar „[…] das Licht auslöschen“ vorgegeben ist – aber man kann davon ausgehen, dass die pantomimische Komponente von Anfang an Teil der Aufführungspraxis der Sinfonie war. Haydn greift also in diesem Stück auf Elemente aus dem Theater zurück.
Erst durch diese theatralische Zutat wirkt die „Abschiedssinfonie“ wirklich wie ein „Abschied“. Sogar Haydns Biograph Dies bemerkt 1810, dass der Fürst den Sinn der Sinfonie ohne die Pantomime wohl nicht verstanden hätte: „Wenn Haydn es unternommen hätte, ohne Gesang, ohne Tanz, ohne Mimik, einzig durch die Macht melodisch verwebter Accorde, auf das Gemüth des Fürsten zu wirken, verstanden zu werden, und seine Absicht zu erreichen: so hätte er, wie mir scheint, eine Unmöglichkeit unternommen.“.
Als Haydn dieses Werk schreibt, findet in Frankreich eine Ballettreform statt: Tanz soll eine Handlung bekommen. Um den Inhalt verständlich zu machen, wird daher zunehmend Pantomime in den Tanz integriert. Diese Reformen finden durch französische Ballettmeister auch ihren Weg nach Wien. Vielleicht lässt sich Haydn 1772 davon zu seinem Finale der Sinfonie Nr. 45 inspirieren.
Ein anderes Vorbild könnte tatsächlich ein Theaterstück gewesen sein. 1764, acht Jahre vor der Uraufführung der „Abschiedssinfonie“, wird das Schauspiel „Der Furchtsame“ von Philipp Hafner erstmals aufgeführt. Das Stück erfreut sich großer Beliebtheit und findet bis ins frühe 19. Jahrhundert mehrmals seinen Weg in die Spielprogramme der Wiener Theater. „Der Furchtsame“ ist für seine Abgangsszenen bekannt: Gleich zwei Mal lässt Philipp Hafner sein Schauspielerensemble nacheinander die Bühne verlassen. Möglicherweise sehen Nikolaus Esterházy und Haydn eine Aufführung bei einem Besuch in Wien. Haydn könnte daher mit seiner Sinfonie Nr. 45 auf den damals beliebten „Furchtsamen“ anspielen – immerhin ist bekannt, dass er auch in anderen Sinfonien auf fremde Werke verweist: In seiner Sinfonie „Le soir“ (Hob. I:8) von 1761 hört man beispielsweise die Arie „Je n’aimais pas le tabac beaucoup“ aus Glucks Oper „Le diable à quatre“ und für die Schauspielmusik bzw. Sinfonie Nr. 60 „Il distratto“ (Hob. I.60) ist ein direkter Zusammenhang mit dem Schauspiel „Le distrait“ von Jean-François Regnard belegt. In „Il distratto“ lässt Haydn sogar kurz seine „Abschiedssinfonie“ anklingen – ein Wink an Zuhörer:innen, dass er schon einmal Bezug auf ein Theaterstück genommen hat?
Möglicherweise erinnert Haydn mit seiner „Abschiedssinfonie“ den Fürsten an einen Theaterabend. Gleichzeitig möchte er vielleicht zeigen, dass er nicht nur in musikalischer Hinsicht mit zeitgenössischen Strömungen bewandert ist, sondern auch genreübergreifend arbeiten kann – Theater und Musik vereint im letzten Satz.
„[…] meine Sprache verstehet man durch die ganze Welt“, soll Haydn seinem Freund Mozart einmal gesagt haben und meinte damit seine Musik. Auch mit der „Abschiedssinfonie“ will er uns wohl irgendetwas mitteilen. Lauschen wir also nach alldem noch einmal in seine Nachricht hinein: Vielleicht hören wir jetzt Zwischentöne, die wir mit unserem vorherigen Wissensstand nicht bemerkt haben.