Lebensende
Joseph Haydns letzter Auftritt
Der beinahe 76-jährige Joseph Haydn lebte eigentlich bereits vollkommen zurückgezogen, als er zu einer Aufführung der „Schöpfung“ geladen wurde. Eine Musikerkollegin konnte ihn jedoch zum Besuch überreden. Das Ereignis sollte zum Spektakel werden, bei dem Haydn umjubelt und gefeiert wurde – sogar Adelige bedienten ihn an diesem Tag. Wir rekonstruieren diese Begebenheit anhand von Zeitungs- und Augenzeugenberichten. So erfahren wir, wie hochverehrt Haydn zu Lebzeiten war, warum die Aufführung nicht pünktlich beginnen konnte und weshalb die Fürstin Maria Josepha Hermenegilde Esterházy persönlich ihrem langjährigen Hofkapellmeister ein Schultertuch umlegte.
Grande Finale in Haydns langer Karriere
Windmühle (Pfarrbezirk Gumpendorf), Kleine Steingasse Nummer 73 – so lautete die Adresse Joseph Haydns im Jahr 1808. Er hatte sich dort schon 1793 ein Haus gekauft (damals noch mit der Nr. 71) und nutzte es in seinen letzten Lebensjahren als ständigen Wohnort. Heute suchen wir die „Kleine Steingasse“ vergeblich auf Straßenkarten, wurde sie doch bereits 1862 in „Haydngasse“ umbenannt. Haydn erhielt auch im Alter regelmäßig Besuch von Bewunderern, Freunden und sogar der Fürstin Maria Josepha Hermenegilde Esterházy. Auch Albert Christoph Dies und Georg August Griesinger suchten den Komponisten auf. Ihre kurz nach Haydns Tod erschienenen Biographien des Meisters dienen uns bis heute als wichtige Quellen. In beiden können wir von jenem Tag lesen, als Haydn zum letzten Mal in der Öffentlichkeit auftrat und dabei groß gefeiert wurde. Sogar Zeitungsberichte erschienen dazu, wie zum Beispiel im „Morgenblatt für gebildete Stände“ oder in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“. Anhand dieser und anderer Aufzeichnungen können wir den Ablauf dieses Ereignisses nachvollziehen.
„Die Schöpfung“ gespielt für Joseph Haydn
beginnt etwa Griesinger den Jubeltag des Komponisten zu erzählen. Eine „Liebhabergesellschaft“ ließ nämlich an diesem Tag – kurz vor dem 76. Geburtstag Haydns – die „Schöpfung“ im damaligen Wiener Universitätssaal aufführen (dem heutigen Festsaal der Akademie der Wissenschaften). Man lud Haydn, der dort „[…] die erste Person seyn sollte […]“, ein. Seine ehemalige Schülerin, die Pianistin Magdalena von Kurzbeck, konnte ihn wohl zum Besuch des Konzertes überreden.
Fürst Esterházy, der an diesem Tag bei Hof geladen war, ließ Haydn extra in einem Wagen von dessen Wohnung abholen. Am Eingang zum Veranstaltungsort wurde der alte Meister von Musikerkollegen wie Ludwig van Beethoven, dem kaiserlichen Hofkapellmeister Antonio Salieri und Johann Nepomuk Hummel empfangen. Aufgrund „gänzlicher Kraftlosigkeit“
musste Haydn jedoch auf einem Lehnstuhl „[…] unter Trompeten- und Paukenschall, von vielen edlen Kunstfreunden Wiens begleitet, […]“ in den Saal getragen werden. Die Begeisterungsstürme – man rief angeblich sogar „Es lebe Haydn“ – rührten den Komponisten dem „Morgenblatt für gebildete Stände“ nach zu Tränen:
Er nahm schließlich neben der Fürstin Maria Josepha Hermenegilde Esterházy Platz.
Als man bemerkte, dass den Komponisten fröstelte, legte ihm die Fürstin höchstselbst ihren „Shawl“ (ein Umschlag- oder Schultertuch) um. „Mehrere Damen folgten ihrem Beyspiele, und Haydn war in wenigen Augenblicken mit lauter Shawls bedeckt“, heißt es bei Haydns Biograph Albert Christoph Dies.
Antonio Salieri leitete die Aufführung. Der Beginn des Konzerts hatte sich aber durch die euphorische Saalmenge etwas verzögert, wie Ignaz von Mosel, ein österreichischer Komponist und Beamter, in seinen Erinnerungen schreibt:
Weit kam Salieri mit seinem Dirigat allerdings nicht, denn bei der berühmten Lichtstelle wurde die Zuhörerschaft erneut in begeisterte Wallungen versetzt. Haydn bewegte diese Reaktion zutiefst: „[…] da stürzten ihm Thränen über die Wangen […]“, schrieb die „Allgemeine musikalische Zeitung“. Bescheiden vermittelte er, dass Gott ihm alles eingegeben habe. Da die Aufregung jedoch offenbar zu viel für den Komponisten wurde, musste er nach dem ersten Teil die Aufführung verlassen. Beethoven küsste ihm zum Abschied die Hände, Haydn dankte dem Publikum sowie dem Orchester und winkte abschließend noch Segnungen in den Saal. Die Menge verabschiedete sich mit Jubel und Ehrbekundungen.
Haydns damaliger Status als unübertroffener Meister – als „Superstar der Musik“, wenn man so will – muss in diesen Momenten besonders spürbar gewesen sein.
Großes Lob von Haydn
Als Albert Christoph Dies dem Komponisten am 5. April 1808 seinen neunundzwanzigsten Besuch abstattete, war Haydn noch ganz aufgeregt:
Haydn bat Dies darum, noch einmal allen Ausführenden des Konzerts „[…] seines heißesten Dankes zu versichern […]“. Besonderes Lob fand Haydn für die Sopranistin Therese Fischer, denn: „[…] sie hätte ihre Stimme mit der möglichsten Zierlichkeit und so treu gesungen, daß sie sich nicht den geringsten unzweckmäßigen Zusatz erlaubt hätte.“ Damit meinte Haydn, dass die Sängerin sich an die Noten gehalten hatte – eigenmächtige Improvisationen durch die Interpret:innen hörte er nämlich in seinen Werken gar nicht gern.
Fürstin Esterházys Geschenk an Haydn
Maria Josepha Hermenegilde Esterházy, für deren Namenstagsfeste Haydn mehrere Messen komponiert hatte, war „ihrem“ Kapellmeister anscheinend besonders zugetan. Laut Dies habe sie den alten Haydn mehrmals besucht und als sein Bruder Johann starb, war sie sogar selbst die Überbringerin der traurigen Nachricht, da sie Sorge hatte, wie Haydn diese aufnehmen würde.
Ein weiteres Zeichen ihrer Wertschätzung war ein besonderes Geschenk, dass sie Haydn machte: Sie ließ eine Kassette anfertigen, deren Deckel mit einem Aquarell geschmückt wurde. Das Bild zeigt die Szene vom 27. März 1808, als die Fürstin dem frierenden Komponisten ihren „Shawl“ umlegte. Haydn ist mittig unten zu sehen und sitzt wie in den Berichten auf seinem Lehnstuhl. Anders als die anderen dargestellten Herren trägt er sogar noch seinen Hut. Bei Dies finden wir eine Erklärung dafür: „Man war sehr besorgt, der schwache Greis möchte sich erkälten, er wurde daher gezwungen, den Hut aufzubehalten.“. Fürst Nikolaus II. Esterházy – der ja eigentlich gar nicht im Universitätssaal zugegen war – wurde neben seiner Frau abgebildet und auch Beethoven ist als Rückenfigur im dunkelblauen Mantel dargestellt. Im Hintergrund sind die Trompetenspieler zu sehen, die bei Haydns Einzug in den Saal feierlich gespielt hatten. Die Kassette ist heute leider verschollen, das Aquarell ist jedoch als Reproduktionsdruck im Wien Museum erhalten.
Verkehrte Welt? Vom Fürstendiener zum „Fürst der Musik“
Auffällig an Haydns letztem öffentlichen Auftritt ist, dass sich eine Art Standesangleichung erkennen lässt. Sehen wir uns etwa diesen Satz aus den Erinnerungen des Ignaz von Mosel an:
Personen des Adels bedienten überspitzt gesagt einen „einfachen“ Komponisten, es wurde kein Unterschied zwischen Bürger:in und Höhergestelltem gemacht. Das hat einige Musikwissenschaftler:innen dazu bewogen, sich näher mit den politischen Umständen dieser Veranstaltung zu beschäftigen. Martin Eybl beispielsweise spricht sogar davon, dass Haydn damals als „musikalischer Fürst“ inszeniert wurde. Denken wir etwa an das Eintreffen des Komponisten im Saal, bei dem Pauken und Trompeten gespielt wurden – diese Art des triumphalen Einzugs war eigentlich Herrschern vorbehalten.
Mit der Parole „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ forderten die Anhänger:innen der Französischen Revolution schon knapp zwanzig Jahre früher die Tilgung der Standesunterschiede. Diese Ideen erreichten auch Österreich, wo sich ebenfalls eine zunehmende Aufwertung des Bürgertums erkennen ließ. Das betraf auch die Künstlerberufe. Am Beispiel Haydns kann man diesen Wandel gut nachvollziehen: Der Kapellmeister der Familie Esterházy bekam zunehmend mehr Freiheiten, um auch Aufträge außerhalb des Esterházy-Hofs annehmen zu dürfen. Nach seiner Rückkehr aus England war er ein gefeierter Star bei Hof, Fürst Esterházy huldigte ihm sogar mit Trinksprüchen.
Noch konkreter für unseren Fall war allerdings eine Forderung des Kaisers Franz I. Er appellierte 1806 zur Stärkung des Habsburgerreichs während der napoleonischen Kriege an die „Mitwürkung aller Volksclassen“. Der Unterschied zur Französischen Revolution ist klar: Hier wurde keine Ständegleichheit gewünscht, sondern eine Ständevereinigung. Die Stärkung des Reiches sollte unter anderem durch die „Verbreitung der wahren Geistescultur“ gelingen. Ignaz von Mosel, österreichischer Komponist und Beamter, sah vor allem in der Musik die Möglichkeit zur Ständevereinigung:
Mosel war auch bei Haydns letztem öffentlichen Auftritt zugegen und bemerkte:
Die Aufführung der „Schöpfung“ am 27. März 1808 trug also auch gesellschaftspolitische Züge. Für Haydn mag die Veranstaltung hingegen einen persönlichen Triumph bedeutet haben – Griesinger überliefert abschließend folgendes Gespräch: