Virtuosität und Fantasie

Kirill Gerstein, Klavier
Etüden? Sind das nicht die Folterwerkzeuge aus der Klavierstunde? Nein – zumindest nicht bei Chopin, der die Etüde salonfähig gemacht hat, und auch nicht bei Claude Debussy, der seine zwölf „Études“ von 1915 dem großen Vorgänger gewidmet hat: Sie stellen der Reihe nach verschiedene Intervalle oder andere technische Probleme in den Mittelpunkt, die für Debussys Klavierstil typisch sind, entpuppen sich jedoch zugleich als pure Ausdrucksmusik – oder, in des Komponisten eigenen Worten, sie „verhüllen ... eine strenge Technik unter den Blumen der Harmonie.“ Wie die Etüde schafft sich auch die Fantasie ihre jeweils eigene Gestalt, eine Form ohne Normen und Zwänge. Bei Haydn treten ihre Marotten als „Capriccio“ zutage, während Beethovens Fantasie op. 77 in g-Moll beginnt, aber in H-Dur endet! Die Fantasie taugt also bestens dazu, den Formenkanon nach typisch romantischer Art aufzubrechen, auch wenn dabei das Sonatensatzprinzip durchschimmern mag: bei Schuberts Wandererfantasie zum Beispiel. Der mit allen stilistischen Wassern gewaschene Kirill Gerstein entführt das Publikum auf eine immer wieder überraschende Entdeckungsreise.